Der Begriff Orthodoxie wird im allgemeinen deutschen Sprachgebrauch entsprechend der Etymologie des Adjektivs orthos (gerade, aufrecht, richtig, recht) und des Verbs dokeo (meinen, glauben, sich bekennen) als Bezeichnung für ein System verwendet, das an der strengen Doktrin festhält. So spricht man von orthodoxem Marxismus, Kommunismus („Betonköpfen“) oder Judentum als Grundhaltungen, deren Sorge der „reinen Lehre“ einer Religion oder Ideologie gilt. Darunter wird schließlich oft das engstirnige, unnachgiebige Festhalten an Dogmen und Lehrmeinungen verstanden, das dem neuen verschlossen bleibt. Auf die orthodoxe Kirche bezogen meint man, daß es sich um eine Kirche handelt, die sich als „recht-, strenggläubig“ versteht (Duden).
Dieses Verständnis, das die genannten negativen Implikationen assoziiert, widerspricht allerdings grundsätzlich der orthodoxen Wirklichkeit als lebendigem Organismus, der seinen Ausdruck im liturgischen Leben der Kirche findet. Daher erscheint dem Wesen der orthodoxen Kirche am ehesten eine andere – komplementär verstandene – Etymologie zu entsprechen, die vom Verb doxazo (preisen) ausgeht. Der rechte Glaube ist demnach nicht abstrakte Doktrin, sondern rechte Lobpreisung Gottes. Im Leben der Kirche, das eine Doxologie, ein Dank für das erfahrene Heil ist, wird die offenbarte Wahrheit in der Geschichte ununterbrochen manifestiert. Die Identität der Orthodoxie besteht weder in einem Lehrsystem gesicherter Wahrheiten noch in einem Organisationssystem, sondern in ihrer Liturgie, in der die Schöpfung die Gemeinschaft mit ihrem Schöpfer erfährt und in einer Theologie der Hymnen – das große Mysterium der Frömmigkeit – doxologisch artikuliert, ohne die Absicht, eine verbindlich-lehrmäßige Formulierung zu geben.“ Quelle: Kallis, Anastasios: Brennender, nicht verbrennender Dornbusch, Theophano Verlag, Münster 1999, S. 15-16